99 Stufen im neunten Land

Die Wiederholung der Wiederholung

Eine Reise durch Slowenien mit Peter Handke im Gepäck

Peter Handke ist 1961 erstmals in das Land seiner slowenischen Vorfahren gereist. Damals hieß es noch Jugoslawien. Literarisch aufgearbeitet hat der Autor diese Annäherung im vor dreißig Jahren erschienenen Buch Die Wiederholung. Handke stammt aus Griffen in Südkärnten. Seine Mutter ist slowenischer Herkunft, in der Gemeinde im Jauntal wird ein slowenischer Dialekt gesprochen. Handke hat ihn nie beherrscht. Seine Slowenischkenntnisse beschränkten sich auf das wenige in der Schule Gelernte, und auch sein Interesse am Mutterland hielt sich in Grenzen. Erst nach der Matura ließen ein Übermaß an Freizeit gepaart mit Mangel an Barem, ausgeprägtem Einzelgängertum und Hang zur Exotik in Handke einen Entschluss reifen und, statt wie die Klassenkameraden nach Griechenland zu fahren, sich über die Karawanken ins noch sehr fremde Nachbarland aufmachen.

Sein alter ego, der Ich-Erzähler Filip Kobal, spürt dem in Jugoslawien verschollenen Bruder nach, den der Autor Handke nie gehabt hat. Der Text ist Rückschau, Standortbestimmung und Zukunftstraum zugleich, „in der Mitte meines Lebens“, wie Handke schreibt, und die Erzählung ist ihm längst zur Wirklichkeit geworden. Seit dem ersten Besuch zieht es ihn wieder und wieder in das neunte Land. So nennt Handke, ein slowenisches Märchen bemühend, das Ziel seiner Sehnsucht. Meist begibt er sich an dieselben Orte: in die alpine Region um den Triglav, an die Seen von Bled und Bohinj, in die Höhlenlandschaft des Karst. Durch die vielen Wiederholungen wird ihm Slowenien immer vertrauter. Zu Hause ist Handke in der Heimat der Mutter nicht; „trotzdem“, bekennt er in Abschied des Träumers vom neunten Land, „habe ich mich in meinem Leben nirgends auf der Welt als Fremder so zu Hause gefühlt wie in dem Land Slowenien.“

Manche Kritiker, Ludwig Hartinger etwa oder Martin Lüdke, halten Die Wiederholung für Handkes bestes Buch. Es gibt auch andere Stimmen. Der Rezensent einer großen deutschen Wochenzeitung warf Handke seinerzeit gar „Lesefolter“ vor. Benjamin Henrichs empfiehlt, „man müßte dem Erzähler nachreisen an die Schauplätze seiner Erzählung – die ‚Wiederholung‘ wiederholen und das Buch vielleicht unterwegs verlieren.“ Henrichs Vorschlag ist kein schlechter, selbst wenn „Handkes Naturbeschreibungen kaum einmal Lust auf Natur“ machen. Andererseits, mit dem Buch als Reiseleiter, liefe der Wanderer von heute kaum Gefahr, dass Verklärung und Idyll ihm den Blick aufs Wesentliche verstellen.

Eine aktuelle Wiederholung der Wiederholung müsste am Bahnhof von Jesenice einsetzen. Hier begann Handkes Jugoslawienreise. Obwohl der Ort in ein grandioses Bergpanorama eingebettet ist, hatte der Besucher kein Auge für die Schönheiten der Natur. Einen verheißenderen Ausblick verhinderte der Qualm der Eisenwerke, verantwortlich für „das allgemeine Grau, das Grau der Häuser, der Straße, der Fahrzeuge, ganz im Gegensatz zu der Farbigkeit der Städte in Kärnten.“ Die Industrieanlagen haben sie in Jesenice größtenteils demontiert und die Reste bunt angestrichen, aber es hilft nichts. „Niederschmetternder“, schreibt die in Maribor geborene Autorin Daniela Schetar, „könnte sich das schöne Slowenien nicht präsentieren.“ Handke hat es nicht gestört. Statt ihn in den nächsten Zug Richtung Südwesten zu setzen, lässt er seinen Protagonisten Filip Kobal sich in der Bahnhofgaststätte einrichten. Das karge Ambiente ist ihm der ideale Ort, die eigene Jugend und das slowenische Erbe aufzuarbeiten. Später findet er einen noch besseren, als er im kaum befahrenen Eisenbahntunnel übernachtet. Ein Mittagsschlaf wäre heute noch drin, von zehn bis vier fahren tagsüber keine Züge, zumindest nicht nach Österreich.

Unterkünfte gibt es in Jesenice wenig. Zur Zeit von Handkes Besuch wird es nicht anders gewesen sein. Schlaf- und Geldmangel zwingen sein Roman-Ich schließlich doch in den Zug. Völlig übermüdet, döst Filip Kobal sofort ein. Erst in Bohinjska Bistrica, im malerischen Tal der Wochein – so der deutsche Name der Gegend – steigt er wieder aus. Im Dorf findet er ein preiswertes Quartier und beschließt, die nächsten Tage dort zu verbringen.

Was hat Filip Kobal unterwegs verpasst? Für den heutigen Reisenden wäre der Slowenienurlaub rasch zu Ende, würde er diese erste Distanz mit der Eisenbahn überbrücken. So groß ist das Land nicht, etwa so wie Niederösterreich mit Wien, zum südlichen Ende sind es keine zweihundert Kilometer. Die lassen sich komplett zu Fuß bewältigen, sogar mit Umwegen. Ein erster würde durch das Tal der Sava Dolinka führen, abwärts bis nach Radovljica, wo sie sich mit der Sava Bohinjka zum längsten Nebenfluss der Donau vereint. Die zweite Quelle speist sich aus dem Wocheiner See und gibt die restliche Wanderstrecke bis Bohinjska Bistrica vor. Radovljica mit seiner aus einem einzigen langgezogenen Platz bestehenden Altstadt, exponiert auf einem Bergrücken gelegen, lohnt ebenso einen Aufenthalt wie Bled. Hier hatte der Brixener Erzbischof seine Residenz. Wie ein steiler Zahn ragt die Burg über den tiefblauen See, der die zweite Sehenswürdigkeit des Städtchens birgt: eine Kirche, nur per Boot und dann über eine Freitreppe mit 99 Stufen zu erreichen. Sicher hätte die Zahl den Mystiker Handke zu weiteren Auslassungen inspiriert. Der langjährige Staatspräsident und Begründer Nachkriegjugoslawiens, Josip Broz Tito, war so angetan von dem Bauwerk, dass er sich am gegenüberliegenden Ufer eine Villa errichten ließ, ebenfalls mit einer monumentalen Freitreppe als Zugang. Sechs Kilometer ist die Extrarunde um den See lang. Täglich wird sie von Touristen aus aller Welt absolviert, von denen die schwarz verschleierten aus Bosnien den denkbar größten Kontrast zur hellen Blässe leicht bekleideter Britinnen abgeben.

In Bohinjska Bistrica erfolgt die Wiedervereinigung mit Filip Kobal. Handkes Protagonist hat sich in einem Gasthof einquartiert, der, „ins Deutsche übersetzt, ‚Schwarze Erde‘, nach einem Gipfel des Gebirgszuges im Süden“ heißt. Das stimmt nicht ganz. Schwarze Erde würde auf Slowenisch Črna zemlja lauten. Einen Gasthof dieses Namens sucht man in Bohinjska Bistrica vergebens. Wohl aber gibt es einen Črna prst; entsprechend der höchsten Erhebung der Unteren Wocheiner Berge. In einem späteren Werk, Gestern unterwegs, korrigiert sich Handke und erwähnt „die wie für immer geschlossene Gostilna Crna Prst, nur die Trittstufe noch außen am Küchenfenster für die Gartenbedienung, aus dem beleuchteten Fenster im ersten Stock, wo ich einst zum ersten Mal hier in Jugoslawien übernachtet hatte.“ Denselben Eindruck vermittelt das Gebäude auch aktuell; ebenso die Gewissheit, dass der Gasthof nie mehr öffnen wird. Das eindrucksvollste Bauwerk in Bohinjska Bistrica ist wieder ein sakrales. Handke nennt es den Wiesendom. Kathedralengleich wurde die überdimensionierte Kirche mitten auf einen unbebauten Acker gepflanzt.

In Bohinjska Bistrica muss Filip Kobal eine Entscheidung fällen. Es geht um die Fortsetzungsart seiner Reise. Zwei Wege stehen ihm offen. Der komfortablere ist sechs Kilometer lang, aber völlig dunkel und beginnt direkt am Ortsausgang. Durch den Eisenbahntunnel nach Podbrdo lässt sich der Übergang von der alpinen Region in den Karst in zehn Minuten bewältigen. Anders als in Jesenice wählt Filip Kobal diesmal die schweißtreibende Variante. Bis Ravne ist die Straße geteert, mündet dann in einen Feldweg und verliert sich in Bergpfaden. Selbst die verlässt er kurz vor der Baumgrenze. Immer den geraden Weg verfolgend, arbeitet er sich über den Kamm, bis er, bevor ihn der Wald wieder verschluckt, über die Mauerreste einer alten Befestigungsanlage stolpert. Von fern glimmern die Lichter des Weilers Bača, in dessen Nähe der gleichnamige Fluss entspringt. Die Nacht aber verbringt Filip Kobal in einem aufgelassenen Bunker; das ist immer noch, denkt er sich, besser als im Tunnel. In Podbrdo, unterhalb von Bača am südlichen Ende der Röhre, hätte sich ihm die Möglichkeit zur Einkehr geboten. Er schlägt sie aus. Zwei Tage irrt Filip Kobal im oberen Bačatal umher. Er hätte nur dem Flusslauf folgen müssen, entlang der einzigen Straße, die den Wanderer bequem ins Sočatal führt.

Nicht verweilt hat Filip Kobal im Baški hram. In Abwesenheit eines Marktplatzes bildet das Café das Zentrum des Örtchens Podbrdo. Im Innern ist ein kleiner Tito-Schrein errichtet, eine Wand mit Fotos tapeziert. Bilder aus der Partisanenzeit und aus der Präsidentenära rufen ein Jugoslawien ins Gedächtnis, an das auch Handke fast nur positive Erinnerung hat. Vor dem Baški hram sitzt ein Anstreicher und schlürft seinen Morgenkaffee, mit Kognak gestreckt. Ein Telekommann versucht seinen Servicebus rückwärts in eine enge Einfahrt zu bugsieren, eine Frau geht in die Stube und kommt mit einer Palette Honiggläser wieder hinaus. Der Besitzer sucht Kassetten und Geldbörsen durch, um einen Fünfzigeuroschein zu wechseln. Dann hat er wieder Zeit für seine Gäste. Er kennt sich bestens aus in der Umgebung und empfiehlt für den letzten Tagesabschnitt eine Abkürzung: Nach dem Zusammenfluss von Bača und Idrijca, auf der Strecke von Most na Soči nach Tolmin, sei der Verkehr zu stark. Bis dahin würden von Podbrdo aus allenfalls ein Dutzend Fahrzeuge pro Stunde die Straße bevölkern. Nur wenn der Autozug aus Bohinjska Bistrica seine Huckepackfracht in Podbrdo auslade, seien es ein paar mehr.

Vermutlich ist Filip Kobal irgendwann auf die Piste gestoßen, um sich in Kneža wieder von ihr zu verabschieden. Hier führt in direkter Linie ein besserer Feldweg, steil und kurvig bisweilen, zu seiner nächsten Etappe. Der Weg endet „in dem Markt Tolmein, dem Hauptort des Tals, in dessen Wappen der Fluss mäandert.“ Der Fluss, das ist die Soča, italienisch: Isonzo. Dessen Ufer waren Schauplatz des mörderischen Gebirgskriegs zwischen Österreich und Italien, der sich über dreieinhalb Jahre hinzog, mit mehr als einer Million Toten, fast ausnahmslos Soldaten. Überall erinnern Gedenktafeln an die Opfer. Recht glimpflich kam die Zivilbevölkerung davon. Das strategisch wichtige Tolmein, slowenisch Tolmin, war von der k.u.k. Armee vorsorglich evakuiert worden. Kaum ein Bewohner hatte damit gerechnet, dass sein Exil so lange andauern würde. Heute ist Tolmin nur von Touristen belagert. Sie nutzen den Ort als Ausgangspunkt für Touren in die Alpen. Der Triglav, das dreihäuptige Dach Sloweniens und früher auch Jugoslawiens, ist nicht weit. Radfahrer fordert der Vršič-Pass heraus, ein Ungetüm mit zweiundvierzig Kehren, doppelt so viele wie Alpe d’Huez aufweist, das klassische Königsetappenziel der Tour de France. Entspannter ist da schon die von zahlreichen Reiseveranstaltern angebotene Fahrt sočaabwärts per Schlauchboot, Kanu oder Kajak.

Alle diese möglichen Ziele lässt Filip Kobal links liegen. Von Tolmin, heißt es in der Wiederholung, „ging ich flußaufwärts nach Kobarid oder Karfreit; der Isonzo zunächst unten im Tal, dann sich annähernd; jenseits Weideflächen mit fenster- und kaminlosen Steinhäusern fürs Heu.“ Ähnlich einsam präsentiert sich der Weg auch heute. Wesentlich betriebsamer war die Gegend um Caporetto, so der italienische Name, vor hundert Jahren. Hier nahm Ernest Hemingway am Ersten Weltkrieg teil, wurde verwundet und verarbeitete die Erfahrung in A Farewell to Arms. Es ist ein unkriegerischer Roman, in dem es ständig schüttet. Bei Hemingway verstärkt der Regen die depressive Stimmung; Handke hilft er, die selbstgewählte Einsamkeit noch intensiver zu empfinden.

Der Wanderer auf Filip Kobals Spuren vermag die Entscheidung, sich nach Kobarid zu wenden, nicht ganz nachzuvollziehen. In Most na Soči spaltet sich der Weg. Die nördliche Route führt weg vom Karst, in die alpine Region. Später lässt Handke seinen Protagonisten sich tatsächlich umorientieren und wieder nach Süden wenden. Allerdings ist er nicht mehr zu Fuß unterwegs. In Kobarid besteigt Filip Kobal einen Bus, der ihn fast durch den gesamten slowenischen Karst kutschiert, zunächst die Soča entlang, dann durch die Berge, bis er die Ebene um Vipava erreicht. Hier taucht er in Erinnerungen ein, an seinen Bruder, an die Jugend, an sein kärntnerslowenisches Dorf. Die Reise ins eigene Ich endet im geografischen Nichts und im biografischen Schwebezustand. Das letzte Satz in der Wiederholung lautet: „Und … .“

In Most na Soči kommt Handkes Wiederholer die Empfehlung des Kritikers plötzlich in den Sinn. Gäbe es einen besseren Ort als hier, an der Weggabelung, um das Buch zu loszuwerden? Und die Route zu Fuß über das Gebirge fortzusetzen, mit einem anderen Autor im Gepäck? Nächstes Ziel wäre Idrija, die alte Bergbaustadt, und dann das Karstdorf Tomaj, die Heimat Srečko Kosovels. Sloweniens vielleicht größter Dichter starb bereits mit 22 Jahren. Nur zwei schmale Bände sind enthalten, die bequem im Rucksack Platz finden.

Von Tomaj ist es ein Tagesmarsch bis nach Villa Opicina. Das Städtchen am Westrand des Karsts liegt bereits in Italien. Hier lässt sich die Wanderung weg von Handke, der sich im Karst verliert, und hin zum Meer, um vielleicht dort einzutauchen, würdig zu Ende bringen. Mitten im Ort liegen plötzlich Schienen. Auf ihnen macht sich eine mehr als hundert Jahre alte Tram auf den Weg, verwandelt sich bald darauf in eine Standseilbahn, verliert über dem Golf und den Dächern von Triest auf weniger als einem Kilometer ein Sechstel an Höhe und rollt, wieder in normaler Spurbreite, auf der Piazza Oberdan ein. Direkt gegenüber der Endstation ist eine Buchhandlung. Dort wartet neue Reiseliteratur.