Das Paradies ist nebenan

Die Zips im Nordosten der Slowakei blickt zurück auf eine reiche Kulturgeschichte. Hier lebten schon immer Menschen verschiedener Ethnien, Nationalitäten und Religionen. Eine Reise im Herzen Europas.

Ralf Höller

Soll ich an der roten Fussgängerampel warten? Die Durchgangsstrasse, die am zentralen Platz von Stará L’ubovňa vorbeiführt, ist an dieser Stelle nur drei Meter breit. Ein rascher Blick, Kinder sind keine zugegen, schon bin ich drüber. Hinter mir ein dunkelhäutiger Typ, mit Sakko und Hut, um die dreissig, schätze ich, denkt offenbar genauso. Auch er hüpft über die Strasse, doch statt wie ich geradeaus über den Platz weiterzugehen, biegt er nach rechts ab. Ein Fehler. Dort sind, ich habe es vorher auch nicht bemerkt, zwei Polizisten verborgen.

Aus sicherer Entfernung beobachte ich die Szene. Zwei braune Hände zeigen zum Zebrastreifen, zum Bürgersteig, zur Armbanduhr. Vier weisse Hände bleiben unbeweglich in die Hüften gestemmt. Erst eine resignative Geste des Ertappten bringt wieder Bewegung in die Uniformierten. Einer zückt einen Quittungsblock, trägt etwas ins oberste Blatt ein, reisst es ab und reicht es dem Sünder. Ein Geldschein wechselt den Besitzer. Die Beamten tippen zum Gruss an die Uniformmütze, der kleine Mann, offensichtlich ein Rom, setzt seinen Weg fort.

Keine Zeit, sich zu unterhalten

Nachmittags sehe ich ihn wieder. An der Eisdiele neben dem Hotel, in dem ich wohne, kauft er seiner kleinen Tochter eine Waffel. Ich spreche ihn an. Ob er sich noch an die Szene von heute morgen erinnere? Braune Augen blitzen mit einem silbernen Ring im Ohr um die Wette. Hmmm, kommt die Antwort. Wie viel er denn zahlen musste? Zehn Euro. Umständlich versuche ich ihm zu erklären, dass ich derjenige war, der vor ihm die Strasse überquerte. Habe ich ihn nicht erst verleitet, meinem schlechten Beispiel zu folgen? Und würde er einen Kaffee akzeptieren, als kleine Entschädigung?

Er nehme keine Almosen. Er habe auch keine Zeit, sich mit Fremden zu unterhalten. Ein schiefes Grinsen, er packt das kleine Mädchen an der Hand und trollt sich.

Ich bin unterwegs in der slowakischen Zips. Stará L’ubovňa, an den Ausläufern der Hohen Tatra, bildet den nördlichen Rand jener historischen Landschaft. Deutsche haben hier gesiedelt, etwa im Dorf Chmel’nica, früher Hopgarten, vier Kilometer von Stará L’ubovňa entfernt. 702 Jahre alt ist die Siedlung, vorletzten Sommer haben sie gross das Jubiläum gefeiert. Es gibt einen deutschen Brauchtumsverein, von einem Saarländer mit seiner slowakischen Frau geleitet. Er erzählt mir von der Geschichte der Deutschen in der Zips. Spišská Nová Ves, Zipser Neudorf, war ihr kulturelles und administratives Zentrum. Dort hatten die 16 Städte der Region ihre Repräsentanz, das ehemalige Provinzhaus ist heute ein Museum. Weitere Sehenswürdigkeiten, die ich mir unbedingt anschauen solle, lägen direkt in der Nähe: die Zipser Burg und das Slowakische Paradies, eine malerische Felslandschaft ähnlich der Sächsischen Schweiz.

Spontan beschliesse ich, Spišská Nová Ves zu meinem nächsten Ziel zu machen. Am Bahnhof sehe ich den Verkehrssünder wieder. Auch er steigt in den Zug nach Poprad, wo ich umsteigen muss. Im Abteil fasse ich Mut und spreche ihn ein zweites Mal an. Dieses Mal ist er offener. Ich darf mich zu ihm setzen, er sagt seinen Namen: Antal. Ist das nicht Ungarisch? Schon richtig, die Zips habe früher zu Ungarn gehört. Aus Levoča, Leutschau auf Deutsch, Lőcse auf Ungarisch, stammten seine Eltern. Dorthin ist er auch jetzt unterwegs. Ich schlage den Ort auf der Karte nach, er ist rot umrandet als besondere Sehenswürdigkeit mit historischem Altstadtensemble. Nach Spišská Nová Ves sind es nur zwölf Kilometer, auch Levoča werde ich mir anschauen.

Bei Polizisten weiss man nie

Ob ich ebenfalls die zehn Euro hätte berappen müssen, frage ich Antal, wenn ich den Polizisten in die Arme gelaufen wäre. Weiss nicht, meint er. Bei slowakischen Polizisten wisse man nie. Nur eins sei sicher: dass ein Rom diese Strafe immer gezahlt hätte, ohne Ausnahme. Uniformträger behielten Angehörige seines Volkes stets im Auge. Andere hielten Distanz; es komme so gut wie nie vor, dass ein Gadsche, ein Weisser, jemanden wie ihn ohne guten Grund anspreche. Als Rom müsse man auf der Hut sein. Sein anfängliches Misstrauen solle ich ihm nicht verübeln, gegenüber seinesgleichen wäre er lockerer drauf.

Im Verlauf der Fahrt taut er auf. Antal erzählt mir, wo seine Eltern in Levoča wohnen. Nicht in der Roma-Siedlung am Berg, von den Gadsche das Ghetto genannt, sondern mitten in der Stadt, in einer kleinen Seitenstrasse, abgehend vom Námestie Majstra Pavla. Der Meister-Paul-Platz, lese ich in einer Touristenbroschüre nach, ist seit dem 16. Jahrhundert unverändert. Die Roma sind erst nach dem Zweiten Weltkrieg zugezogen. Antal fragt sich, wie lange sie bleiben dürfen. Eine Siedlung, am Weg von Levoča über die Kathedrale von Spišská Kapitula zur Zipser Burg, haben die Behörden vor ein paar Jahren aufgelöst. Der Anblick der slumähnlichen Siedlung sei den Touristen angeblich nicht länger zumutbar gewesen.

Das Gespräch kommt in Gang, wir radebrechen auf Englisch und Tschechisch. Die Zeit verfliegt, der Zug fährt in einen grossen Bahnhof ein. In Poprad steigen wir um und setzen uns auch im Zug nach Spišská Nová Ves ins selbe Abteil. Antal fragt mich, wie es den Roma in Deutschland gehe. Keine Ahnung, ich kenne keinen einzigen. Manchmal sieht man welche in der Fussgängerzone betteln. Das sei in der Slowakei sinnlos, meint Antal, jedenfalls für Roma. Nach Österreich oder Deutschland fahren würde er gerne einmal. In der Slowakei liege die Arbeitslosenrate erwachsener Roma zwischen 80 und 90 Prozent. Er selber sei auch arbeitslos. Im Internet schaue ich später nach: Der Mindestlohn in der Slowakei beträgt 2 Euro 30, das monatliche Durchschnittseinkommen 883 Euro. In der Hauptstadt Bratislava sind die Gehälter allerdings doppelt so hoch wie in der Zips.

Eine kleine Gegenleistung

In Spišská Nová Ves angekommen, willigt Antal dann auf einen Kaffee und ein Stück Kuchen im Bahnhofbistro ein. Nicht ohne eine kleine Gegenleistung, wie er grinsend nachschiebt. Ich wolle doch sicher ins slovenský raj, in die Felslandschaft des Slowakischen Paradieses. Als ich bejahe, erzählt er mir, wie ich den seiner Meinung nach überteuerten Eintritt in die Touristenattraktion sparen könne. Dann trennen wir uns.

Spišská Nová Ves war einmal ein grosses Dorf mit zwei langgezogenen Strassen. Heute leben knapp 40 000 Einwohner in der Stadt. Die beiden Strassen sind jetzt das Zentrum. Schöne Bürgerhäuser säumen sie, die Fassaden in Hellblau, Schweinchenrosa und k. u. k. Ocker. Die meisten sind stuckverziert. Das prachtvollste Sakralgebäude ist heute ein Museum, war früher Rathaus, dann Zentrale der Provinzverwaltung. Die Wandgemälde an der Fassade rufen die Eigenschaften in Erinnerung, die ein guter Ratsherr in sich vereinen sollte. Zur Bekräftigung sind sie in lateinischer Sprache aufgeführt. Eine Schulklasse steht davor, offenbar auf einem Ausflug. Gemeinsam mit ihrem Lehrer versuchen die Kinder die Inschriften zu übersetzen.

Spišská Nová Ves ist ein angenehmes Städtchen. Es gibt gute Restaurants, die kaum besetzt sind, und auch ein paar einladende Bierlokale. Neben den einheimischen Sorten und dem allgegenwärtigen Heineken wird auch Weizen angeboten, von einer deutschen Brauerei (Krombacher). Es kostet 1 Euro 30. Für einen slowakischen Minimalverdiener scheint dies immer noch zu viel verlangt, denn auch die Kneipen sind unter der Woche recht leer.

Der nächste Tag beginnt mit strahlendem Sonnenschein, was die Wahl zwischen Zipser Burg und Slowakischem Paradies zugunsten von Letzterem entscheidet. Ich entsinne mich Antals Ratschlags, auch wenn ich mir den Eintrittspreis von 1 Euro 50 (für Autofahrer käme noch die Parkplatzgebühr hinzu) durchaus leisten könnte. Also nehme ich den Bus nach Spišský Štvrtok, ans andere Ende des Paradieses, um von dort aus durch die Felsen und am Fluss Hornád entlang nach Spišská Nová Ves zurückzuwandern.

Der Weg, den Antal mir beschrieben hat, führt zwischen zwei Tankstellen hindurch und an der Postfiliale vorbei. Bald habe ich die letzten Häuser von Spišský Štvrtok erreicht. Immer der Strasse nach soll ich gehen, auf den Wald zu. Plötzlich endet der Teerbelag; die Schotterpiste, nur mehr ein besserer Feldweg, weist riesige Schlaglöcher auf. Nach einem weiteren Kilometer erreiche ich den Rand einer kleinen Siedlung. Drei zerlumpte Burschen kommen mir entgegen, einer hat eine Kuh am Halfter.

Seitlich der Ortschaft fliesst ein Bach vorbei, mehr ein Rinnsal. Darin stehen einige Frauen barfuss, die Röcke hochgerafft, und waschen ihre Wäsche. Die trockenen Teile werden ans Geländer der kümmerlichen Brücke gehängt, die über das Gewässer führt. Was dort keinen Platz findet, landet im hohen Gras der Wiese. Hunde streunen herum, schnüffeln im Boden, an der Wäsche, springen in den Bach und wieder hinaus. Mich wundert, dass die Frauen nicht im Haus waschen. Elektrizität scheint vorhanden, Leitungsmasten mit Stromkabeln führen durch das Dorf.

Elend in gnädigem Licht

Aber wie sehen die Häuser aus? Vorhänge statt Türen, Wellblechdächer, keine geraden Wände, keine Kanalisation, nur ein paar Sickergruben, die von den Hütten Zulauf erhalten. Die Strasse durch den Ort ist nicht geteert, dafür von braungelben Pfützen übersät. Aus geöffneten Fenstern hängen Bettdecken, Musik plärrt nach draussen. In den Vorgärten, eigentlich sind es Brachen, vor den Hütten brennt so manches Feuerchen. Kinder laufen um die züngelnden Flammen herum, Hühner bringen sich in Sicherheit. Zwei Mädchen streiten sich um ein schwarzes Kaninchen, jedes will es auf den Arm nehmen. Aus einem der Häuser quiekt, den allgemeinen Lärm noch übersteigend, ein Schwein. Einige Erwachsene haben sich niedergelassen und essen Konserven direkt aus der Dose.

Die Stimmung ist nicht aggressiv, im Gegenteil. Meist freundliche, manchmal lachende Gesichter; Kinder, die Faxen machen, und einige Ältere, die freundlich winken. Ganz Alte, das überrascht mich, sind kaum zu sehen.

Was soll ich tun? Hier erwartet mich keiner, ich habe niemandem etwas zu sagen. Irgendwie bin ich froh, dass ich mich mit keinem der Bewohner unterhalten muss und mangelnde Slowakisch- oder Ungarischkenntnisse vorschützen kann, falls mich jemand anspricht. Doch so weit kommt es nicht. Freundliche Distanz ist die grösstmögliche Nähe, die sich entwickeln kann zwischen dem Besucher aus dem reichen Westen und den Insassen dieses Slums, der selbst eine brasilianische Favela ansprechend aussehen liesse. Die Sonne steht inzwischen hoch am Himmel und taucht das Elend in gnädiges Licht. Wie mag es hier erst bei Regen sein?

Der Lärm verebbt

Ich gehe weiter in den nahen Wald. Es riecht nach Exkrementen, überall liegen Papiertaschentücher herum. Nur die unzähligen Fliegen fühlen sich wohl an diesem Platz. Der Lärm verebbt, als der Wald mich verschluckt – ein ebenso unvermutet aufgetauchter wie rasch wieder verschwundener Eindringling in eine Welt, von der er bis heute Morgen nicht geglaubt hätte, dass sie existiert. Der Weg, bis anhin stets eben, geht in eine steil abfallende Böschung über. An ihrem Fuss fliesst ein munteres Flüsschen dahin, viel sauberer als das Rinnsal weiter oben. Allmählich wird das Ufer steiler, Fels ersetzt die Böschungen. Immer bizarrer werden die Formationen, um die sich das Wasser pittoresk windet. Das muss das Paradies sein, das slowakische. Später kommen mir Wanderer entgegen, einzeln und in Gruppen. Die Felsen rücken so eng zusammen, dass ein Weiterkommen nur auf Stegen, die frei über dem Wasser zu schweben scheinen, oder über Leitern möglich ist.

Richtig geniessen kann ich die Landschaft kaum. Ich möchte es auch nicht. Nach zwei Stunden im Touristenparadies passiere ich das Spišská Nová Ves am nächsten Kassenhäuschen mit angrenzendem Parkplatz. Auf dem Weg in die Stadt komme ich an einer weiteren Roma-Siedlung vorbei. Auch diese ist schäbig und wirkt heruntergekommen, doch kein Vergleich zum Elendsquartier von heute Vormittag!

Abends beim Bier muss ich an Antal denken. Ob er mir absichtlich den Tipp mit der Eintrittumgehung gegeben hat?