Fünf Zwerge und ein Fußball

Fünf Zwerge und ein Fußball

Der vergessene Schriftsteller Karel Poláček

Drei Romane von Karel Poláček sind in Deutschland erschienen: Zuletzt, im Jahr 2001, Wir fünf und Jumbo im Rahmen der Tschechischen Bibliothek bei DVA, drei Jahrzehnte zuvor Abseits im Rosenheimer Verlagshaus und 1956 Die Bezirksstadt bei Rütten & Loening. In unserem Nachbar- und seinem Geburtsland kennt Karel Poláček jeder. Ein Blick über den Zaun.

Von Ralf Höller

Fünf Zwerge stehen in einem Garten, aber sie sind größer als Gartenzwerge. Bei genauerem Hinsehen erkennt man fünf Kinder. Eins hat einen Dackel zwischen den Beinen, ein anderes einen Ball am Fuß. Die Kinder sind nicht echt. Sie sind aus Sandstein gehauen, daher sei der Vergleich mit den Zwergen erlaubt. Der Garten dagegen ist echt, auch wenn es sich bei genauerem Hinsehen um eine Mischung aus Grünanlage und Fußgängerzonenbegrenzung handelt, die für das einleitende Wortspiel als Garten herhalten muss. Der, bleiben wir dabei, Garten würde ohne seine Zwerge selbst in einem ostböhmischen Provinznest wie Rychnov nad Kněžnou kaum auffallen. Mit Zwergen ist er der Touristenmagnet. Dahinter steckt natürlich eine Geschichte. Die Geschichte ist echt, nur geht sie leider nicht gut aus.

Die Kinder heißen Petr Bajza, Antonín Bejval, Čeněk Jirsák, Éda Kemlink und Josef Zilvar. Sie haben nie gelebt. Warum setzt man ihnen dann ein Denkmal? Einheimische würde diese Frage nie stellen. Für ein Volk, welches in einer nationalen Abstimmung den größten Tschechen gesucht und mit dem Prager Forscher, Tausendsassa und Eulenspiegelpendant Jára Cimrman beinahe eine zwar allseits populäre, aber auch fiktive Person gekürt hat (Jára Cimrman wurde nachträglich disqualifiziert), ist dies normal; wenngleich in einem Land, in dessen Historie auf den Prager Frühling die Periode der Normalisierung folgte, nichts so normal ist, wie es scheint. Der Dackel heißt übrigens Pajda. Pajda ist nun wirklich ein ganz normaler Name für einen tschechischen Dackel, ein hundsgewöhnlicher sozusagen.

Die fünf Kinder entstammen alle einem Kinderbuch. Bylo nás pět ist sein Titel und Karel Poláček sein Autor. Eine deutsche Ausgabe gibt es auch, mit Erweiterung auf dem Buchdeckel: Wir fünf und Jumbo. Warum, würde jetzt wieder so eine tschechenferne Frage lauten, ist dieser Jumbo Teil des deutschen Titels und nicht Teil des Rychnover Denkmals? Weil er, käme vielleicht als Antwort, nicht mehr draufgepasst hätte. Der Jumbo im Roman ist ein ausgewachsener indischer Elefant. Eines schönen Wintertages hat ihn der Gemischtwarenhändler Bajza, Petrs Vater, gekauft. Jeder im Ort bewundert das prächtige Tier, vor allem, weil Väterchen Bajza ihm das Sprechen beigebracht hat. Jumbo deswegen gleich ein Denkmal zu setzen, käme den pragmatischen Tschechen, trotz ihres Hangs zur Poesie, nicht in den Sinn. Statt des voluminösen Dickhäuters haben sie den zierlichen Pajda verewigt. Und den Fußball.

Der Ort Rychnov liegt am Fuß des Adlergebirges, nicht weit von der polnischen Grenze. Zu der Zeit, in der Poláčeks Roman angesiedelt ist, siedelten auch viele Deutsche in Reichenau an der Knieschna. Bald nannten sie sich Sudetendeutsche; das Präfix war eindeutig politischer Natur, einen Gebirgszug Sudeten sucht man in der geografischen Fachliteratur vergebens. Der Flußname ist die eingedeutschte Version des tschechischen Kněžna, der Ortsname die eingetschechte Variante des deutschen Reichenau. Dabei war Rychnov stets eine tschechischsprachige Stadt, das Flüsschen Knieschna dagegen kommt aus dem Adlergebirge, wo es eine große deutsche Sprachinsel gab. Wechselhaft und verwirrend, wenn auch nicht immer lustig ging es zu im Zusammenleben der beiden Völker, doch gewöhnte man sich aneinander. Bis die Henlein, Heydrich und Hitler kamen und für die Vertreibung zuerst der Tschechen und dann der Deutschen aus dem so genannten Sudetengebiet sorgten.

Karel Poláček, 1892 geboren, hat sein Heimatstädtchen aus pragmatischen Gründen verlassen. Zu kompliziert war das Leben in Rychnov, vor allem vormittags. Von seiner Zeit am örtlichen Gymnasium blieb einzig das Blankwetzen der hinteren Klassenbänke mit dem Hosenboden in Erinnerung. Eine Karriere in der Reinemachbranche war jedoch nicht mit dem väterlichen Bildungseifer vereinbar. Folglich wechselte der Sohn des jüdischen Kolonialwarenhändlers Jindřich Poláček nicht nur die Schule, sondern gleich die Stadt. Karel maturierte in Prag, hängte ein Jusstudium an der Karlsuniversität an, kämpfte im Weltkrieg für die untergegangene k.u.k. Monarchie und heuerte in der ersten tschechoslowakischen Republik bei der staatlichen Import-Export-Kommission an. Nebenbei schrieb er für die humoristische Zeitschrift Nebojsa, die, wäre sie in Deutschland erschienen, vielleicht Fürchtenix geheißen hätte. Obwohl er ein Pseudonym benutzte (kočkodan, deutsch: Meerkatze) wurde Poláček eine Satire über seinen Arbeitgeber zum Verhängnis. Den anschließenden Rausschmiss nahm er dankbar auf und verschrieb sich künftig nur noch dem Journalismus.

Bücher schrieb Poláček auch. Sein Repertoire reichte von Kinderbüchern über gesellschaftskritische Romane bis hin zur gehobenen Unterhaltungsliteratur. Hier kommt wieder der Fußball aus dem Denkmal ins Spiel. In einer Welt der Märchen, in der die Vereinbarkeit mit der Realität und manchmal auch die Regeln der Physik außer Kraft gesetzt sind, könnte sich ein von einem starken Riesen wie Jumbo im Rychnover Garten Richtung Erdumlaufbahn losgetretener und zunächst nicht dem Gesetz der Schwerkraft gehorchender Ball vielleicht in der Prager Seifertovastraße wieder zur Erde neigen und schließlich auf dem Rasen des Grundstücks 32/3 landen. Die Parzelle, zum Stadtteil Žižkov gehörig, beherbergt das Stadion des FK Viktoria. Das Szeneviertel hinterm Hauptbahnhof ist übrigens auch Heimat des fiktiven Gelehrten wie realen Nationalhelden Jára Cimrman.

Im Idealfall würde unser Ball seine Flugbahn an einem Sonntag um 10 Uhr 15 beenden. Anschließend könnte er sofort eingesetzt werden. Seit Gründung der tschechoslowakischen Fußballliga anno 1925 trägt die Viktoria traditionell um viertel elf ihre Meisterschaftsspiele aus. Früher stets erstklassig, verabschiedete sich der Klub nach dem Krieg, aber noch vor der Machtübernahme der Kommunisten in die zweite Division. Wirtschaftliche Probleme bescherten ein einjähriges Intermezzo in der dritten Etage, mittlerweile darf die Viktoria wieder in Liga zwei auflaufen.

Bleiben wir noch ein Weilchen im Stadion. Zum Start der aktuellen Saison schaut das Team aus Tábor vorbei. Obwohl der Gast ein Aufstiegsfavorit ist, wollen nur knapp zweitausend Unentwegte das Spiel sehen. Zumindest beim Žižkover Teil des Publikums, um ein Bonmot des Kollegen Alexander Feuerherdt zu bemühen, kann man sich nie sicher sein, ob es zu dieser frühen Uhrzeit noch immer oder schon wieder besoffen ist. Immerhin bekommen alle mit, dass Elvist Ciku, Tábors albanischer Stürmer, die Gäste nach sieben Minuten in Front bringt. Es wird ruhig in der engen, sechstausend Zuschauer fassenden Wellblechschachtel. Zehn Minuten später ist wieder reichlich Alarm, als Mittelfeldregisseur Zdenek Volek den Ausgleich besorgt. Bis zum Ende ändert sich nichts mehr am Spielstand. Das 1:1 gegen eine Zweitligaspitzenmannschaft ist kein schlechter Auftakt, entsprechend zufrieden gehen alle nach Hause. Oder in die Kneipe.

Zu Poláčeks Zeit wäre, bei aller Wertschätzung, der MAS Táborsko kein würdiger Gegner für die Viktoria gewesen. Bis in die 1930er Jahre kickten, mit Ausnahme des SK Kladno, ausschließlich Prager Vereine in der höchsten Liga. Den Meister machten stets die Slavia und die Sparta unter sich aus. Auch hier gibt es eine Ausnahme: 1927/28 gewann Viktoria Žižkov den Titel; es sollte der einzige bleiben.

Einen achtbaren vierten Platz belegte im Gründungsjahr der Liga der DFC Prag. Ein deutscher Fußballclub, wofür die Initialen stehen, war in der Hauptstadt der ersten tschechoslowakischen Republik nichts Besonderes. Auf dem Feld gab es, wie abseits desselben, kaum Berührungsängste. Die besten Torschützen des DFC im Debütjahr hießen nicht Freitag und Bäuerlein, sondern Patek und Sedlaček – und die Namen wurden nicht übersetzt. Erst an dritter Stelle dieser Rangliste erscheint der erste deutsche Name: Krombholz.

Allen diesen Vereinen verhalf Poláček mit seinem Roman Muži v ofsajdu zum Einzug in die Literatur. Auf Deutsch müsste der Titel Männer im Abseits lauten. Eine deutsche Übersetzung gibt es tatsächlich. Die 1975 im Rosenheimer Verlagshaus erschienene Ausgabe heißt, grob verkürzend, Abseits. Zum Glück fällt im weiteren Verlauf keine der handelnden Personen dem rotstiftigen Lektorat zum Opfer.

Poláčeks Hauptprotagonist Eman(uel) Habásko, viktorianischen Bekenntnisses, muss sich für ein Auswärtsspiel seines Vereins von der Žižkover Höhe zu einem anderen Prager Hügel aufmachen. Auf der Letná, jenseits der Moldau, ist die Slavia beheimatet. Der Tag beginnt nicht gut für Eman. Den Eintritt kann der Arbeitslose – die beginnende Weltwirtschaftskrise lässt grüßen – sich nicht leisten. Über einen Baum in Zaunnähe klettert er ins Stadion, landet aber inmitten von Slavia-Anhängern. Mit einem von ihnen, Richard Načeradec, gerät er in Streit. Ein Wort gibt das andere, bis Načeradec seinem Antipoden die größte unter damaligen Fußballliebhabern vorstellbare Beleidigung an den Kopf wirft: Eman sei ein Fan! Man sollte dieses Schimpfwort umgehend wieder in die Umgangssprache einführen! Poláček unterscheidet in seinem Roman feinsinnig zwischen dem fanouš und dem přivrženec, dem ahnungslosen Dummschwätzer und dem fachkundigen Anhänger. Letzterem wird der tschechische Untertitel, Ze života klubových přivrženců (Aus dem Leben der Klubanhänger), explizit gerecht. In der deutschen Übersetzung lautet er dagegen: Aus dem Leben von Fußball-Fans.

Nachher werden Richard Načeradec und Eman Habásko noch gute Freunde. Der Inhaber eines Gummiwarenkonfektionsgeschäfts in der Prager Hybernskágasse, der Verlängerung der Seifertova Richtung Pulverturm, stellt Eman sogar als Verkäufer ein. Ihr Bekenntnis legen beide natürlich niemals ab. Über den Zweitglauben Emans erfährt der Leser nichts, bei Načeradec ist es der jüdische. Aber dies scheint, zumindest in der Tschechoslowakei, noch keine Rolle zu spielen. Feindbilder existieren schon, im Fall von Načeradec und Eman ist es die Sparta. Der Roman, das geht aus Erwähnungen realer Ereignisse hervor, ist 1930 angesiedelt, jenem Jahr, als die Slavia verlustpunktfrei Meister wurde und der Viktoria eine bittere 8:1-Schlappe zufügte.

Bei all dem Fußball ist in Muži v ofsajdu noch Platz für die Liebe. In Emans Fall verkörpert sie eine Brünette mit Bubikopf. Endgültig erobert die aufgeweckte Emilka Šefelínová Emans Herz während eines Gastspiels der Viktoria bei den klokany. Hinter den Känguruhs steckt das Team der Bohemians, die seit einer Australienreise das Beuteltier im Wappen führen und den entsprechenden Spitznamen tragen. Als ein Herr im Publikum, offensichtlich auf Seiten der Gastgeber, ein Foul eines Žižkover gesehen haben will, weist Emilka ihn scharf zurecht. Der Getadelte wehrt sich: „Ich bin kein Fan, aber sie sind einer!“ Seine Beleidigung lässt eine erboste Emilka mit der rhetorischen Frage zurück, warum ausgerechnet sie, die anerkanntermaßen zu höchster Objektivität fähig sei, ein Fan sein sollte. Der Herr resigniert, und auch Eman muss die Frage nicht beantworten, was nur zeigt, zu welch großer Nähe sich die Beziehung zu seiner Emilka bereits entwickelt hat.

Der DFC kommt bei Poláček ebenfalls zu Ehren. Einer seiner größten Anhänger ist ein Herr Katz aus der Kaprovagasse, gleich beim Altstädter Ring. „Wenn der DFC gewann“, heißt es im Roman, „kaufte er vor lauter Freude allen Kindern im Park Brezeln.“ Es gab auch andere Sonntage, „wenn der Klub verlor. Da stellte er sich mit dem Gesicht zur Planke, sagte Kaddisch, das Gebet für die Verstorbenen, auf und ging dann traurig nach Hause.“

Poláčeks Protagonisten stammen aus allen möglichen Gesellschaftsschichten und Ethnien. „Anhand der Fußballfans, der verschiedenen Fußball-Clubs und der unterschiedlichen Herkunft, seien es Tschechen, Deutsche oder Juden“, gab der Sporthistoriker Stefan Zwicker nach einem Vortrag im Prager Literaturhaus Radio Prag ein Interview, „entwirft Poláček dabei ein Panorama der damaligen Prager Gesellschaft.“

Nach dem Münchner Abkommen und der anschließenden Erledigung der ‚Rest-Tschechei‘ änderte sich das Leben für jüdische Bürger wie Poláček grundsätzlich; ganz unabhängig davon, wie ihre Einstellung zum Glauben war. Letzte Lebensstation des Schriftstellers wurde Terezín. Die nach Maria Theresia benannte Festungsstadt nördlich von Prag war das erstes Konzentrationslager auf böhmischem Boden. Vor seiner Verfrachtung dorthin beendete Poláček rasch noch seinen Roman Bylo nás pět. Am 5. Juli 1943 traf der Transport mit ihm und seiner um fünfzehn Jahre jüngeren Lebensgefährtin Dora Vaňáková, einer promovierten Juristin, in Theresienstadt ein. Im Ghetto hielt Poláček Vorträge und baute eine Bibliothek auf. Die Bücher stammten aus dem Besitz von deportierten Juden aus dem gesamten Protektorat.

In den fünfzehn Monaten, die er in Terezín verbrachte, litt Poláčeks Gesundheit. Er magerte immer mehr ab. Am 19. Oktober 1944 verließ er, zusammen mit 1500 Personen, darunter Dora Vaňáková, das Ghetto als körperliches Wrack. Endstation sollte das Vernichtungslager Auschwitz sein. Drei Monate später, kurz vor dessen Auflösung, wurde er auf einen Todesmarsch nach Oberschlesien geschickt, zuerst nach Zabrze (Hindenburg), dann nach Gliwice (Gleiwitz). Bis dahin hat er alles überlebt, aber davongekommen ist er nicht. Poláček starb vermutlich am 21. Januar 1945. Die genauen Umstände seines Todes sind ebenso ungeklärt wie der Verbleib der sterblichen Überreste. Wahrscheinlich wurde Poláček von seinen Bewachern erschossen und die Leiche in einem namenlosen Massengrab verscharrt.

In Rychnow kündet, außer dem Denkmal für Bylo nás pět, eine Skulptur von Poláčeks Dasein. Sie liegt an derselben Straße, der panská, nur ein wenig weiter stadtauswärts, am Eingang des Schlossparks. In der Synagoge haben sie eine Karel Poláček-Gedenkstätte eingerichtet, zur bleibenden Erinnerung an einen der meistgelesenen und höchstangesehenen tschechoslowakischen Schriftsteller der Zwischenkriegszeit, den die Deutschen umgebracht haben.