Hightech-Ampeln für Pferdefuhrwerke?

Reiseartikel: Hightech-Ampeln für Pferdefuhrwerke? Unterwegs in Rumänien

Industrielandschaft bei Copsa Mica
Industrielandschaft bei Copsa Mica

Der letzte EU-Außenposten vor der Grenze ist das ungarische Szeged. Die Stadt wurde am 12. März 1879 von einer Flutkatastrophe heimgesucht, als der Fluss Tisza über die Ufer trat. Von den damals 6 000 Häusern blieben 300 stehen. Aus Solidarität mit den Opfern spendeten die europäischen Hauptstädte Geld für den Wiederaufbau. Zum Dank benannten die Szegediner die Abschnitte der äußeren Ringstraße in Becsi (ungarisch für Wien) körút, in Moszkvai, Londonik, Párizsik, Brüsszeli körút. Der mit Abstand kürzeste ist der Berliner Abschnitt: Ob es daran lag, dass die Deutschen bei ihrer Hilfe am knauserigsten waren?

Der Flutkatastrophe verdankt Szeged die zahlreichen Jugendstilbauten, in denen sich heute auffallend viele Banken angesiedelt haben. Einen Eindruck von Wohlstand vermittelt auch die Konditorei Virag am zentralen Klauzál-Platz: Sie beherbergt eine der größten Eisdielen Europas. Das ungarische Wort für Speiseeis ist übrigens fagyilalt. Gerüchten zufolge soll es von Ungarn hier erfunden worden sein, die später als Auswanderer das gelato nach Italien brachten. Vermutlich sind sie anschließend nach Buenos Aires weitergereist und führten dort den Tango ein.

Hinter der großen Tiszabrücke schlängelt sich die Europastraße 38 zunächst ein Stück entlang der rumänischen Grenze; dann kommt der Übergang Nagylak. Hier ist EU-Land zu Ende, beginnt endgültig der Balkan. Der erste größere Ort hinter der Grenze ist Arad. Trotz ihrer 200 000 Einwohner wirkt die Stadt wie eine Ansammlung von Häusern, ohne richtiges Zentrum. Bis 1920 gehörte Arad noch zu Ungarn. Heute leben, anders als im übrigen nordwestlichen Rumänien, kaum noch Magyaren hier.

Das Straßenbild ist komplett anders als noch in Szeged. In Arad wurden vermutlich sämtliche Bilder geschossen, die später Einzug in den Reiseführer Molwanien – Land des schadhaften Lächelns hielten. Alles wirkt sozialistisch-trostlos, mit Menschen, die offenbar ohne Arbeit herumlungern, streunenden Hunden, Plattenbauten und viel Beton, dafür wenig touristischem Angebot. Da bereits alles über die Stadt in dem oben erwähnten Reiseführer geschrieben wurde, lohnt an dieser Stelle kein weiteres Wort über sie.

Weiter Richtung Osten vermittelt Lipova, ein kleines Dorf mit grobem Kopfsteinpflaster, gedrungenen Häuschen, ein paar Läden, die sogar abends um Acht noch geöffnet haben, einen idyllischeren Anblick. Das erste angebotene Zimmer räumt mit diesem Bild leider schon wieder auf: Es ist zwar preiswert, kann aber selbst den nach unten geschraubten Ansprüchen Osteuropa-erfahrener Reisender nicht genügen: Erst nachdem beide Betten aus dem Raum entfernt werden würden, könnten sämtliche Insassen der angepriesenen Dreipersonenunterkunft darin Platz finden; allerdings nur in Schlafsäcken auf dem Boden – vorausgesetzt, man ließe die Zimmertür offen. So bleibt nur die Landstraße.

Orthodoxe Kirche in Maramures
Orthodoxe Kirche in Maramures

Irgendwann taucht in der Nacht ein kleines Motel mit Tankstelle auf. Es hat „nonstop“ geöffnet, wie eine rotumrandete Reklametafel einladend verkündet. Das Bier ist dann auch nicht schlecht, es kommt aus einem riesigen amerikanischen Kühlschrank, einem bunten Leuchtturm im umgebenden Resopalgrau. Doch die Zimmer sind in Ordnung, die Betten gut. Die Weiterreise nach kräftigem Frühstück am nächsten Morgen führt nach Deva, einer Stadt, in der die Fotos gemacht wurden, die keine Aufnahme in den oben erwähnten Reiseführer gefunden hatten. Pittoresk ist einzig der Anblick eines Pferdefuhrwerks vor der unvermeidlichen Plattenbausilhouette.

Auf jedes Fuhrwerk in Ungarn kommen mindestens zehn in Nordwestrumänien. Im Osten des Landes fahren dann vermutlich nur noch Fuhrwerke. An Deva fällt auf, dass viele Einheimische in Kontakt mit westlichen Touristen kommen wollen. Sie bieten einen Crash-Kurs in Rumänisch an und verlangen im Gegenzug einen Euro. Auf dem Bürgersteig lungert ein hyänenhafter Hund, der die Forderung nach einem Geldstück wirksam unterstützen würde – aber offenbar fehlt ihm die Lust dazu. So wechselt kein Geld den Besitzer.

Bei Sebes gabelt sich die Europastraße: Links geht’s nach Alba Iulia, dem ehemaligen Gyualaféhervár, das lange Zeit die Hauptstadt Ungarisch-Siebenbürgens war; rechts nach Sibiu, wo sich im 18. Jahrhundert zahlreiche Deutschen angesiedelt hatten. Heute ist das frühere Hermannstadt zu 98 Prozent von Rumänischstämmigen bewohnt.

Straßenbild in Maramures
Straßenbild in Maramures

Das Hotel im Zentrum ist ein alter sozialistischer Kasten, und das Dreierzimmer kostet 20 Euro pro Person, mit opulentem Frühstücksbüffet. Da Sibiu 2007 europäische Kulturhauptstadt wird, herrscht überall rege Bautätigkeit. Am modernsten sind die Ampeln. Sie zählen jeweils in roter und grüner Farbe die Sekunden, die der Autofahrer noch warten muss und der Fussgänger an Schonung genießen darf. Nicht ganz dazu passen wollen die mitunter recht betagten Autos. Es fällt auf, dass die meisten einheimischer Bauart sind – Dacias aus den Siebziger, Achtziger, Neunziger Jahren, die meisten von ihnen in erstaunlich gutem Zusatnd.

Der Bahnhof von Sibiu ähnelt dem einer Provinzstadt im amerikanischen Westen der Jahrhundertwende, nur dass hier weniger los ist. Locker überqueren Passanten die Gleise, und wenn ein Zug kommt, ist er so langsam, dass man ruhig noch einmal vor und zurück gehen kann. Auch für Liegestützen auf den Gleisen wäre noch Zeit. Immerhin beinhaltet die Bahnhofszenerie eine prächtige Aussicht mit den in der Sonne weiß leuchtenden Gipfeln der Südkarpaten im Hintergrund.

Sobald man die Stadtgrenze von Sibiu verlassen hat, verschwinden die Hightech-Ampeln. Die Nebenstraßen sind nicht einmal mehr asphaltiert. Hier zockelt ein mit gebrauchten Ziegelsteinen beladenes Pferdefuhrwerk daher, dessen fünf Passagiere nur darauf achtzugeben scheinen, dass nichts herrunterrutscht. Es überholt einen am Rand geparkten LKW mit hochgelassener Plane, die einen Blick freimacht auf 100 000 sauber aufgestapelte rosa Klopapierrollen in Plastikverpackung, aber ohne jeglichen Firmenaufdruck.

Von Sibiu aus geht es nach Nordosten, Richtung Orientalkarpaten. Ein touristisches Kleinod ist Sighisoara. Das frühere Schäßburg wirkt nicht minder herausgeputzt wie die idyllischen Kleinstädte Ungarns oder sogar Österreichs. Dracula-Touren werden angeboten, die Speisekarte ist ins Deutsche, Französische, Italienische und Englische übersetzt. Auf den Straßen fahren deutlich mehr Busse als Fuhrwerke, und die Autos rumänischer Produktion der Marke Dacia sind erstmals in der Unterzahl gegenüber der ausländischen Konkurrenz.

Weniger pittoresk als Sighisoara ist das 100 Kilometer weiter östlich gelegene Miercurea Ciuc, wo ganz viele Ungarischstämmige leben. Alle Straßenschilder und Speisekarten sind zweisprachig, die meisten jungen Besucher der zahlreichen Kneipen sprechen zudem ausgezeichnet Englisch. Das haben Laci, Bea, Mihály und Anikó ausschließlich in der Schule gelernt; die rumänischen Lehrer scheinen hervorragenden Unterricht zu machen. Sie selber schieben es zum Teil auf die Mentalität der Ungarn zurück, die diese angeblich fleißiger sein lässt als die Rumänen, weswegen erstere mehr Bildung, letztere aber die besseren Strassen hätten. Das Geld der Regierung fließe als Strukturhilfe in den Süden und Osten des Landes. In der Mitte und im Norden – zumindest das stimmt – sei alles voller Schlaglöcher, die Stoßdämpfer und Autos vor harte Bewährungsproben stellen.

Wen man auch fragt – jeder, der ungarischer Herkunft ist, fühlt sich selbst heute noch als Opfer von Trianon. In dem Vertrag mit den Siegermächten des Ersten Weltkriegs verlor Ungarn zwei Drittel seines Staatsgebiets, leider die landschaftlich schönsten. Deshalb ist das Land so flach und pusztamäßig; früher zählten noch die herrlichen Berglandschaften der Slowakei und Siebenbürgens dazu.

Die jungen Ungarnrumänen freuen sich auf die EU: Bald wird der Grenzübertritt in die Heimat der Vorväter ohne lange Grenzkontrollen möglich sein. Ob dann László, der als Nachtportier arbeitet und Hotelgästen gern Nachhilfestunden in Geschichte gibt, weiter rhetorische Fragen stellen wird, die da lauten: „Wie konnte Hitler nur den Zweiten Weltkrieg verlieren?“. Auf Nachfrage legt er noch einen drauf: „Was machen wir nur mit den Zigeunern? Ich hasse sie alle!“

Wenn man die Ostkarpaten in nördlicher Richtung durchquert, warten nach scheinbar endloser Abfahrt zwei alte Kulturlandschaften: die Bukowina und Maramures. Beide grenzen an die Ukraine. Wenn der Rückweg nach Deutschland über Ungarn führt, bietet sich das westlicher gelegene Maramures an.

Dort präsentiert sich Rumänien wirklich rückständig, aber exotisch und nicht ohne Charme – etwa wenn ein Pferd den spärlichen Rasen zwischen den Hochhausblöcken im Hauptort Sighetu Marmatiei abgrast oder auf Fuhrwerken Hausrat, Holz oder Heu transportiert wird. Die Menschen in Maramures gehen am liebsten mitten auf der Straße. Das können sie getrost machen, denn die Schlaglöcher bremsen alle Raser und machen die Einführung von Tempodreißigzonen oder häßlichen Hubbeln überflüssig. Man sollte deutsche Stadtplaner einladen und ihnen diese preiswerte Lösung vorstellen.

In Sighetu Marmatiei stellt das Museum für die Opfer der stalinistischen Säuberungen in Rumänien ein beachtliches Erinnerungswerk dar. Die Gedenkstätte ist alles andere als historisierende Folklore, sondern so vorbildlich gestaltet, dass sich selbst der deutsche Stasi-Chefaufarbeiter Joachim Gauck nach seinem Besuch mehr als beeindruckt zeigte, wie er im Gästebuch ausführlich bekundet hat. Erfreulich ist die keineswegs einseitige Darstellung der jüngsten Geschichte des Landes. So wird in der ständigen Ausstellung fairerweise angemerkt, dass sich in Rumänien nach der Machtübernahme Nicolae Ceausescus (vom Stalinisten Georghiu Dej) nicht nur wirtschaftlich, sondern zunächst auch politisch einiges zum Besseren gewendet hatte.

Die Huldigungen des Westens blieben da nicht aus. Vor allem die Weigerung, im August 1968 bei der Besetzung der Tschechoslowakei mitzutun, und das hartnäckige Festhalten an diplomatischen Beziehungen brachte Rumänien viele Pluspunkte im Westen, gemünzt in Wirtschaftshilfe, ein. Die Dollars, Francs und D-Mark wurden anfänglich gewinnbringend in Infrastruktur und soziale Projekte gepumpt. Daher baut Dacia bis heute sehr robuste und brauchbare Autos, und auch der Wohnungsbau gedieh prächtig. Leider trieb der Personenkult des selbsternannten Titans der Titanen und seiner Frau Elena, der angeblich größten Wissenschaftlerin aller Zeiten – in Wirklichkeit hatte sie nur drei Jahre lang eine Schule von innen gesehen – bizarre Blüten.

Am Ende wurde das Land vom Überwachungsapparat der allgegenwärtigen Securitate im Griff gehalten, dem selbst die Ceausescus zum Opfer fielen. Ihre merkwürdig improvisierten Hinrichtung wurde in den letzten Tagen des Jahres 1989 in alle Wohnzimmer übertragen. Warum machte man ihnen keinen ordentlichen Prozess und sperrte sie in ein Gefängnis, fragt sich nicht nur Adela, eine Angestellte des Museums. Seit diesem mehr als holprigen Start ähnelt Rumäniens Weg in die Demokratie der Schrittfolge der Echternacher Springprozession.

Bis heute goutieren die Rumänen das Wohnungsprogramm ihres verblichenen Diktators. Die vielen Hochhausblöcke allerorts sorgen für ausreichend große Unterkünfte und niedrige Mieten. Allerdings befinden sich die Lebensmittelpreise auf dem Niveau gehobener deutscher Supermärkte, sind also unerschwinglich für Durchschnittsverdiener, deren Verwandte – 800 000 Rumänen arbeiten in EU-Staaten, vorwiegend in Italien und Deutschland – kein Geld aus dem Ausland schicken. Jede Familie hat einen Garten und kauft nur wirklich Notwendiges wie Mehl oder Öl im Geschäft. Das Einkommen pro Person beträgt 150 Euro im Monat, der Sprit kostet 90 Cent, das gezapfte Bier 50 Cent. Wenigstens den letzteren Preis empfinden Adelas Landsleute als halbwegs gerecht.

Erstaunlich ist das Bildungsniveau der Bevölkerung. Im Norden beherrschen viele eine Fremdsprache, neben Ungarisch oder Deutsch vor allem Englisch, Italienisch, Französisch – und das auf hohem Niveau. Im Hotel in Sighetu Marmatiei etwa werden alle diese Sprachen gesprochen. Auf die Nachfrage, wo sie das gelernt hätten, sagen zwei der Rezeptionistinnen: „In der Schule.“ Eine hat ein Jahr in Italien gearbeitet. Russisch dagegen, so wird versichert, sei weniger beliebt, was nicht nur daran liege, dass es als nichtlateinische Sprache keine Verwandschaft mit dem Rumänischen aufweist.

Das letzte Stück der Reise führt durch eine sehr grüne, hügelige Landschaft mit lauter Pferdefuhrwerken wieder an einer Grenze entlang – der zur Ukraine. Vielleicht wird sie bald die neue EU-Außengrenze bilden. Ob das Maramures dann noch seinen ländlich-idyllischen Charakter behalten wird? Es soll sehr viele Italiener, Franzosen und Deutsche geben, die sich in letzter Zeit nach den Hauspreisen erkundigt haben.