Gewalt in der Pflege

Wenn die Würde zum Konjunktiv wird

(erschienen in der Süddeutschen Zeitung)

 

Was seht Ihr, Schwestern, was seht Ihr? Denkt Ihr, wenn Ihr mich anschaut: Eine mürrische alte Frau, nicht besonders schnell, verunsichert in ihren Gewohnheiten, mit abwesendem Blick, die ständig beim Essen kleckert, die nicht antwortet, wenn Ihr sie anmeckert, weil sie wieder nicht pünktlich fertig wird? So beginnt das Gedicht einer Frau, die lange Jahre in einem schottischen Pflegeheim lebte. Das Personal dort hatte sie als geistesschwach und orientierungslos eingestuft. Das Gedicht fand man erst nach ihrem Tod bei ihren Überbleibseln.

Im Leben vieler alter Menschen ist die Würde ein Konjunktiv. Untersuchungen in westlichen Industriestaaten, die sich mit den Lebensumständen von Senioren in der Pflege befassen, ergeben einen düsteren Befund, wie jetzt eine Serie von Veröffentlichungen im British Medical Journal bestätigt. Zwar fehlen weiterhin wissenschaftliche Erhebungen mit exakten Daten und nüchternen Zahlen; dafür sammeln Notrufzentralen und andere Hilfseinrichtungen authentische Fälle und veröffentlichen sie. Die Vielzahl solcher Publikationen lässt vermuten, dass es sich bei Herabwürdigungen, Übergriffen und sogar Gewalt gegen ältere Heimbewohner längst nicht mehr um Einzelschicksale handelt.

„Bezogen auf die vielen Anrufe in den letzten Jahren, die wir erhalten haben“, so Professor Rolf Hirsch, Chefarzt für Gerontopsychiatrie in der Rheinischen Landesklinik und Initiator der Bonner Krisenberatungsstelle „Handeln statt Misshandeln“, „liegt der Schluss nahe, dass Gewalt in Institutionen gegen pflegebedürftige Ältere fast schon ein Massenphänomen ist. Bedenkt man zusätzlich, dass auch uns nur ein Bruchteil derjenigen anruft, die Gewalt in Institutionen erfahren haben, steht für mich fest, dass es sich tatsächlich um ein Massenphänomen handelt“.

Untermauert wird Hirschs These durch den Bericht eines Auszubildenden, der sein Altenpflegepraktikum in Oberfranken absolvierte: „Ich habe erlebt, wie die alten Menschen geistig verblöden, weil sie den ganzen Tag am gleichen Fleck sitzen. Wegbewegen können sie sich nicht, da sie meist immobil sind. Viele werden unter Psychopharmaka gesetzt, damit sie Ruhe geben und nicht weglaufen können. Ihnen werden Katheter gelegt, nur um sie nicht auf die Toilette führen zu müssen. Auf die Frage: ‚Kann ich bitte auf die Toilette gehen, ich muss so dringend‘ antwortet die Pflegekraft: ‚Lassen Sie es ruhig laufen, sie haben doch einen Katheter'“.

Gewalt in der Pflege ist ein Tabuthema, stellen die bundesweit 14 Notrufeinrichtungen in ihren Jahresberichten übereinstimmend fest. Wenn überhaupt, bringen nur die Patienten und ihre Angehörigen dieses Problem zur Sprache. Als unmittelbar Betroffene haben sie das größte Interesse daran, dass Übergriffe sich in Zukunft nicht wiederholen. Viele Heimleiter, Pfleger und Ärzte wiederum – so der Vorwurf – leugnen das Phänomen, geben höchstens die eine oder andere Ausnahme zu, von der sie über Dritte, vom ‚Hörensagen‘, erfahren haben wollen, und führen strukturelle Ursachen für die oft katastrophalen Zustände in der Pflege an.

Eine lösungsorientierte, von Emotionen unbelastete Herangehensweise an das Problem scheitert oft schon an der Frage, wo Gewalt anfängt. Nicht immer liegen die Fälle so eindeutig wie in den oben beschriebenen Beispielen. Wie weit darf der Betreuer etwa gehen, wenn der Patient sich weigert, seine Medikamente einzunehmen? Wie oft soll eine Pflegekraft, die in der Nacht zwei ganze Stockwerke zu versorgen hat, einen schwerbehinderten Inkontinenten auf die Toilette begleiten?

„Es ist nicht einfach, festzulegen, was unter Gewalt zu verstehen ist“, sagt Hirsch und plädiert dafür, das Grundgesetz in die Bewertung einzubeziehen: „Die Missachtung der Menschenwürde ist Gewalt“. In der Sichtweise des Opfers mache es keinen Unterschied, ob der Gewaltanwendung direkte personelle oder indirekte strukturelle Ursachen zugrunde liegen. Auch die vielfältigen Formen, seien sie physischer oder psychischer Natur, würden von den Betroffenen generell als Verstoß gegen ihre individuelle Würde und als Herabsetzung ihrer Person empfunden. Notwendig sei, „die Gewalt – auch deren Androhung – selbst in ihrer unscheinbarsten Form öffentlich und klar zu ächten“.

Als häufigste Auswüchse der Gewalt in Pflegeheimen nennt Hirsch die Ruhigstellung mittels Psychopharmaka, künstliche Ernährung ohne medizinische Notwendigkeit, die unbegründete Fixierung von Patienten und die zum Dekubitus führende Vernachlässigung durch das Personal. Die Hauptursache für die Missstände sieht Hirsch in der mangelhaften Ausbildung. Arbeitsüberlastung, fehlende psychologische Betreuung und ungünstige Pflegeschlüssel seien zwar Gründe, die beim Personal zu beruflicher und persönlicher Frustration führten, doch dürften sich diese Faktoren nicht in Aggression gegen die Patienten niederschlagen.

Britische und schwedische Studien brachten eklatante Mängel in der Pflegeausbildung zu Tage. Eine Untersuchung der in London ansässigen Zentrale für gesundheitliche Aufklärung stellte beim Pflegern bedenkliche Vorurteile und verallgemeinernde Betrachtungsweisen gegenüber älteren Patienten fest. Die britische geriatrische Gesellschaft attestiert dagegen Pflegekräften, die in geriatrischen Abteilungen arbeiten, eine positivere und individuell differenzierende Einstellung älteren Menschen gegenüber – verglichen mit ihren Kollegen auf gemischtaltrigen Stationen. Schwedische Wissenschaftler beobachteten über ein Jahr eine Gruppe von Pflegekräften im Umgang mit älteren Demenzkranken. Dank ihrer speziellen Ausbildung entwickelten alle ein feines Gespür für die Bedürfnisse und die Würde ihrer Patienten, während gerontologisch ungeschultes Personal bei älteren Demenzkranken nicht differenzierte und stereotype Verhaltensmuster erkennen ließ.

Eine verbesserte Ausbildung muss., so die Forderung von „Handeln statt Misshandeln“, zwingend mit einer Umstrukturierung in den Pflegeheimen einhergehen. Der Gerontologe Hirsch gibt zu bedenken, dass hierarchische Strukturen in großen Pflegeeinrichtungen die Kommunikation zwischen allen Beteiligten verhinderten. In kleinen Organisationseinheiten könnten die Pfleger besser auf die Bedürfnisse der Patienten eingehen. Hirsch plädiert für überschaubare Heime mit einem professionellen Management, in denen ein kooperativer Führungsstil gepflegt und bewusst auf die Fachkompetenz des Personals gesetzt wird. Außerdem müsse jedem der dort Beschäftigten die Zeit eingeräumt werden, um über seine Arbeit – eventuelles Fehlverhalten eingeschlossen – gründlich zu reflektieren. Oberster Maßstab für alle Mitarbeiter, so Hirsch, sollte die Zufriedenheit der Bewohner, nicht der reibungslose Ablauf einer Pflegemaschinerie sein.

 

Patienten und deren Angehörige, aber auch Pfleger und Ärzte können sich an 14 deutsche Notruftelefone und Krisenberatungsstellen wenden. Die komplette Liste gibt es im Internet unter www.hsm-bonn.de oder über die Bonner Initiative „Handeln statt Misshandeln“, Breite Straße 107a, 53111 Bonn, Tel. 0228 – 69 68 68, Fax 0228 – 63 63 31. „Handeln statt Misshandeln“ bietet ein Curriculum „Gewalt in der Pflege“ sowie eine Gesprächsgruppe „Alternativen gegen Gewalt“ speziell für Pflegefachkräfte an.

 

 

Literatur:

 

  1. D. Hirsch, C. Fussek (Hgg.), Gewalt gegen pflegebedürftige alte Menschen in Institutionen: Gegen das Schweigen. Berichte von Betroffenen, Bonn 1999 (Neuauflage erscheint in Kürze) (Bonner Schriftenreihe Gewalt im Alter).

Kate Lothian, Ian Philp, Maintaining the dignity and autonomy of older people in the healthcare setting. In: British Medical Journal 2001;322 (17. März) :668-670

 

Lothian/Philp beziehen sich u.a. auf folgende Veröffentlichungen:

Health Advisory Service, Not because they are old. An independent inquiry into the care of older people on acute wards in general hospital. Health Advisory Service, London 2000.

British Geriatrics Society, Standards of medical care for older people. Expectations and recommendations. British Geriatrics Society, London 1997.

  1. Skog, M. Grafstrom, M Negussie, B. Winblad, Change of outlook on elderly persons with dementia: a study of trainees during a year of special education. In: Nurse Education Today 1999; 19: 472-479
  2. Eisemann, M Eriksson, D. W. Molloy, M. Nordenstam, J. Richter, Attitudes towards self-determination in health care: A general population survey in northern Sweden. In: European Journal of Public Health 1999; 9(1): 41-44.
  3. Hope, Nurses‘ attitudes towards older people: A comparison between nurses working in acute medical and acute care of elderly patient settings. In: Journal of Advanced Nursing 1994; 20: 605-612
  4. Davies, R. Slack, S. Laker, I. Philp, The educational preparation of staff in nursing homes: Relationship with resident autonomy Journal of Advanced Nursing 1999; 29: 208-217